"Wir wünschen uns ausdrücklich 'verrückte' Ideen."

Im Gespräch: Ulrike Bischler, Koordinatorin der Förderinitiative "Experiment!", und Cornelia Soetbeer, Teamleiterin des Bereichs "Herausforderungen für Wissenschaft und Gesellschaft".

700 Anträge erreichten die VolkswagenStiftung in der ersten Runde der Förderinitiative "Experiment!", 630 in der zweiten. Das Programm fördert die Erkundung innovativer und risikoreicher Forschungsideen mit ungewissem Ausgang in den Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften. Die Stiftung hat offenbar einen Nerv der Wissenschaftscommunity getroffen. Welche Bilanz zieht die Stiftung nach der ersten "Experiment!"-Runde?

Frau Bischler, Frau Soetbeer, Sie sind auf dem Weg nach Warschau zu einer Konferenz des European Foundation Centre, wo Sie über die Förderung von Risikoforschung durch die VolkswagenStiftung berichten werden. Warum sind risikoreiche Forschungsprojekte so wichtig für die Wissenschaft?
Dr. Cornelia Soetbeer

: Ein Forscher hat eine vielleicht brillante Idee, weiß aber nicht, ob diese wirklich zu belastbaren Ergebnissen führen kann. Doch wenn es funktioniert, kann das einen unglaublichen Schub für weitere Forschungsprojekte bewirken. Denken Sie etwa an den Bereich der Materialforschung: Der lebt von innovativen und ungewöhnlichen Denkansätzen. Viele wichtige Entwicklungen, beispielsweise in der Medizintechnik, wären sicherlich ohne ein gewisses Wagnis, etwas ganz Neues und auf den ersten Blick Verrücktes auszuprobieren, nicht zustande gekommen. Kurzum: Die Wissenschaft wäre ärmer ohne risikobereite Forscherpersönlichkeiten. Dr. Ulrike Bischler: Explorative, riskante Projekte geben Forschern zudem die Chance, ganz auf ihre wissenschaftliche Intuition zu setzen. Bei ergebnisorientierten Projekten mit hohem Erfolgsdruck ist das meistens nicht möglich. Und selbst wenn das Projekt scheitert, ergeben sich auch aus diesem Scheitern neue, möglicherweise wichtige Erkenntnisse für weitere Projekte. Auch ein Scheitern wird von uns, als Förderer, deshalb ausdrücklich positiv bewertet.

Dr. Cornelia Soetbeer, Teamleiterin des Bereichs "Herausforderungen für Wissenschaft und Gesellschaft" der VolkswagenStiftung, im Gespräch mit Dr. Ulrike Bischler (Foto: VolkswagenStiftung)
Warum hätten solche Projekte keine Chance auf eine konventionelle Forschungsförderung?
Dr. Cornelia Soetbeer

: In staatlich geförderte Projekte fließen öffentliche Gelder – Steuergelder. Und für die Verwendung solcher Mittel muss man sich rechtfertigen, das heißt: Ein Forschungsprojekt muss diese Investition rechtfertigen. Deshalb erwarten viele Förderer, etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Bundesforschungsministerium, aber auch große Stiftungen, schon im Vorfeld möglichst genaue Angaben über die bereits geleisteten Vorarbeiten und die zu erwartenden Ergebnisse. Dr. Ulrike Bischler: Doch bei den mit "Experiment!" geförderten Forschungsideen sind solche Angaben natürlich nicht möglich.

Worauf kommt es bei Ihrer Initiative also vor allem an?
Dr. Cornelia Soetbeer

: Wir verstehen unsere Förderung als Anschubfinanzierung für Ideen. Wir haben deshalb das sonst übliche Auswahlverfahren für Projektanträge geändert. Es gibt keine Gutachter, sondern eine Jury. Die Bewerbungen sollen kurz und knapp sein, ohne beigefügte Publikationsliste oder ähnliches. Sie sollen auf drei bis vier Seiten das Besondere und Innovative des Denkansatzes herausarbeiten. Dr. Ulrike Bischler: Ein wichtiger Punkt ist dabei die anonyme Bewertung: Die Jury kennt die Namen der Wissenschaftler nicht, sondern bekommt nur deren Ideenskizze zu lesen. So wollen wir sicherstellen, dass die Forschungsidee im Mittelpunkt steht und nicht etwa das Renommee des Bewerbers. Zu den Geförderten gehören demzufolge nicht nur etablierte Forscher, sondern natürlich auch junge Nachwuchswissenschaftler. Ein weiterer Unterschied zu regulären Förderprogrammen ist, dass die Geförderten ihre Mittel komplett flexibel einsetzen können. Etwa wenn sich das Experiment nach ein paar Monaten anders entwickelt, als gedacht, und beispielsweise deshalb außerplanmäßig ein bestimmtes Gerät benötigt wird.

Dr. Bischler, Projektkoordinatorin der Förderinitiative "Experiment!" der Stiftung, im Gespräch mit Dr. Soetbeer (Foto: VolkswagenStiftung).
Die 13 Geförderten der ersten "Experiment!"-Runde haben vor kurzem ihre Zwischenergebnisse vorgestellt. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Dr. Ulrike Bischler

: Rund die Hälfte der Förderanträge stammt aus den Lebenswissenschaften. Doch auch für Ingenieure ist unsere Initiative offenbar sehr interessant – obwohl die Fördersumme mit 100.000 Euro für ein ingenieurwissenschaftliches Vorhaben vergleichsweise niedrig ist. Und zu unserer Überraschung haben sich alle bis auf eine Projektidee erfolgreich so entwickelt, wie vom Antragsteller geplant. Ganz besonders freut uns, dass diese Projekte sicherlich sehr gute Aussichten auf eine Weiterförderung durch andere Mittelgeber haben, weil sie nun die in regulären Förderprogrammen geforderten Vorergebnisse vorweisen können.

Hatten Sie denn mit mehr gescheiterten Projekten gerechnet?
Dr. Ulrike Bischler

: Ehrlich gesagt, haben wir uns gefragt, ob wir alle, inklusive der Jury, nicht vielleicht doch zu vorsichtig und risikoscheu bei der Auswahl der Projekte waren, wenn alles so glatt läuft (lacht). Vielleicht waren etliche Projekte doch näher am "Mainstream", als es ursprünglich den Anschein hatte.

Im Rahmen seiner "Experiment!"-Förderung arbeitet Dr. Christian Herzmann daran, mit Kaugummi die Diagnose von Lungen-Tuberkulose zu vereinfachen. (Foto: Christian Burkert / VolkswagenStiftung)
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die zweite und die folgenden Förderrunden?
Dr. Ulrike Bischler

: Wir wollen erreichen, dass noch mehr Projekte deutlich außerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams berücksichtigt werden, denn wir wünschen uns ja ausdrücklich solche "queren" Ideen. Das haben wir auch der Jury kommuniziert. In der zweiten Runde haben die Jury-Mitglieder nun die Möglichkeit genutzt, ihren "Joker" einzusetzen, das heißt: sich offen gegen das Votum anderer Jurymitglieder zu stellen und damit die Förderung eines umstrittenen Projekts durchzusetzen. Denn ein Konsens innerhalb der Jury ist nicht notwendig, um den Zuschlag für eine Förderung zu erhalten. Auf diese Weise haben sich mehr und, so unser Eindruck, ungewöhnlichere Projektideen als in der ersten Runde behaupten können. Dr. Cornelia Soetbeer: Insgesamt hat die Jury mit ihrem mutigeren Ansatz in diesem Jahr 19 Projekte ausgewählt – das sind 50 Prozent mehr als noch in der ersten Runde. Dafür stellt die Stiftung insgesamt 1,9 Millionen Euro zur Verfügung.

Darüber hinaus hat die Stiftung ein neues Programm aufgelegt: "Originalitätsverdacht?" für Geistes- und Kulturwissenschaftler. Wie kam es dazu?
Dr. Cornelia Soetbeer

: Schon seit längerem gibt es seitens unserer geisteswissenschaftlichen Kuratoren den Wunsch, eine "Experiment!"-Variante für ihre Fächer anzubieten. Abgesehen von den Rahmenbedingungen – der Kürze und der anonymen Bewertung der Anträge, dem flexiblen Einsatz der Mittel -  konnten wir das Prinzip jedoch nicht eins zu eins übertragen.

Warum nicht?
Dr. Cornelia Soetbeer

: In den Geisteswissenschaften gibt es wegen einer ganz anderen Arbeitsweise den Begriff des Projektrisikos nicht. Beziehungsweise: "Risiko" ist in der geisteswissenschaftlichen Forschung oft eher negativ besetzt. In "Originalitätsverdacht?" steht also nicht die Frage im Mittelpunkt, wie bringe ich ein risikoreiches Projekt voran, sondern: Was ist ein origineller Denk- und Forschungsansatz? Und welche Unterstützung brauchen die Wissenschaftler dafür? Wie in "Experiment!" werden aber auch hier keine ausführlichen Vorarbeiten erwartet.  

Was und wie wird mit "Originalitätsverdacht?" gefördert?
Dr. Cornelia Soetbeer

: Wir bieten zwei Förderlinien an: Zum einen bekommt die einzelne Forscherpersönlichkeit die Möglichkeit, ein Thema explorierend zu bearbeiten und in einem Essay darzulegen. Die zweite Linie wendet sich an Projektteams mit bis zu 4 Antragstellerinnen und Antragstellern, die sich gemeinsam einer neuen Forschungsidee widmen, deren Tragfähigkeit erkunden und in einem gemeinsamen Text veröffentlichen wollen.

Ganz unabhängig von Ihren eigenen Initiativen: Was wünschen Sie sich für Wissenschaftler, die sich auf gewagte Projekte einlassen?
Dr. Ulrike Bischler

: Wünschenswert wäre, dass Forscher auch wenn es nicht geklappt hat, über ihre aus der Erkundung einer Idee heraus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse publizieren und diese Ergebnisse somit sichtbar machen können. Dr. Cornelia Soetbeer: De facto ist es derzeit aber nahezu unmöglich, in renommierten Journalen Texte über solche Erfahrungen zu veröffentlichen. Es bleiben nur Open-Access-Foren, deren Reichweite und Impact-Faktor in der Regel begrenzt sind. Dabei wäre es so wichtig: Welche Ideen haben sich im Experiment als richtig herausgestellt, wo haben sich nicht zu überwindende Barrieren ergeben? – von diesen Erkenntnissen würde die ganze Community profitieren! Das Gespräch führte Mareike Knoke.

Weitere Informationen zur Förderung risikoreicher Projekte durch die VolkswagenStiftung

Im Wissenschaftsmagazin "Impulse", Ausgabe 2/2014, stellt die VolkswagenStiftung Beispiele für risikobereite Forschung vor: Link zum Heft Eine "Geschichte aus der Förderung" über Dr. Christian Herzmann, der Tuberkulose-Erregern mit Kaugummi auf der Spur ist: Ein "Experiment!" News-Beitrag zu den Bewilligungen der zweiten Runde von "Experiment!": Sehr großes Interesse an der Förderinitiative "Experiment!"

Details zu den Initiativen "Experiment!" und "Originalitätsverdacht?"

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