Wie wollen wir morgen leben?

Beim 1. Herrenhäuser Zukunftsdialog widmeten sich Wissenschaftler und Politiker, darunter der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit.

Dass sich Menschen Gedanken über die Zukunft machen, ist wohl selbstverständlich. Was hingegen nicht so häufig vorkommt, ist, dass sich Politik und Wissenschaft gemeinsam überlegen, wie es weitergehen könnte und dazu auch die Öffentlichkeit einladen. Entsprechend groß war der Ansturm zum 1. Herrenhäuser Zukunftsdialog im wiedererrichteten Schloss Herrenhausen, bei dem zahlreiche Interessierte mangels Platz in dem für rund 300 Besucher ausgerichteten Saal nicht eingelassen werden konnten.

Wie es zu der Idee für die neue Vortragsreihe der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Kooperation mit der VolkswagenStiftung und der Niedersächsischen Landesregierung gekommen war, erläuterte der Präsident der Göttinger Akademie, Prof. Stefan Tangermann, zu Beginn der Veranstaltung: "Bei unserem Antrittsbesuch hat der Ministerpräsident gesagt, es täte der Landesregierung vielleicht ganz gut, bisweilen etwas mehr intellektuellen Input von einer Einrichtung wie der Akademie zu haben."

Input aus der Wissenschaft für die Politik

Für diesen Input sorgten bei der Auftaktveranstaltung am 27. Oktober die Soziologin Prof. Ilona Ostner, der Philosoph Prof. Holmer Steinfath und der Volkswirt Prof. Stephan Klasen. Entgegengenommen wurden die Anregungen vom Ministerpräsidenten Stephan Weil persönlich, und für eine professionelle Moderation und Einbindung des Publikums sorgte die Fernsehjournalistin Ines Arland.

Die Grundlage für die Diskussion schufen Ostner und Steinfath in zwei Impulsreferaten. Die Soziologin befasste sich mit der Frage, wie sich die Einstellung der Deutschen zu Familie, Arbeit einerseits und Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Solidarität andererseits verändert hat. Dabei stützte sie sich auf Langzeitstudien, für die seit den 1990er Jahren Daten erhoben wurden. Ostner stellte unter anderem heraus, dass die Wichtigkeit der Familie nicht abgenommen habe, aber immer weniger Menschen in einer "Hausfrauenehe" leben wollten und immer mehr Menschen, vor allem aber Männer, sich ein "gutes Leben auch ohne Kinder" vorstellen könnten. Die Erwerbsarbeit habe im Vergleich zum Familienleben zwischen 2006 und 2013 an Wichtigkeit verloren. Als Beispiel für den Grad der Bereitschaft zu mehr Solidarität stellte Ostner eine aktuelle Umfrage vor, die erkundete, ob die Bürger im Prinzip auch bereit seien, für eine gerechtere Gesellschaft mehr Steuern zu zahlen, und die von zwei Dritteln der Befragten mit „nein“ beantwortet wurde. Philosophieprofessor Steinfath hält bei Überlegungen zur Zukunftsgestaltung die Punkte "Gerechtigkeit, Generationsverhältnisse, Grenzen des Wachstums und Vorstellungen vom guten Leben" für maßgeblich und stellte zugleich dar, wie unterschiedlich die Auffassungen zu diesen Themenkomplexen seien und wie schwierig dadurch deren Umsetzung werde. "Wir wollen alle in einer halbwegs gerechten Gesellschaft leben, nur verstehen wir darunter nicht alle das Gleiche", sagte Steinfath. Zu divergierenden Vorstellungen von Gerechtigkeit käme es, weil Menschen unterschiedliche Auffassungen von unserer Gesellschaft hätten; während die einen in ihr primär eine Art Aktiengesellschaft sähen, betrachteten andere sie zuallererst als Solidargemeinschaft oder als demokratisches Gemeinwesen gleichberechtigter Bürger. Zu große Ungleichheiten gefährdeten die Demokratie. Zur demografischen Entwicklung merkte er an, dass die Entscheidung für Kinder eine private Angelegenheit bleiben müsse, doch seien Kinder auch ein öffentliches Gut, für das die Gesellschaft als Ganze schon im eigenen Interesse aufkommen sollte. Kritisch äußerte sich Steinfath zu dem ständigen Wunsch nach mehr Wachstum: "Ich habe nie verstanden, warum ein gutes Leben nicht auch ohne Wachstum möglich sein soll, sofern einmal ein bestimmtes Wohlstandsniveau erreicht ist." Zuletzt kritisierte er beispielhaft das Eindringen der ökonomischen Bewertungsmaßstäbe in die Universität. Die Fixierung auf Creditpoints und Drittmittelquoten beförderten die Umstellung von intrinsischer auf äußerliche Motivation, die zu der Grundhaltung "Und was bekomme ich dafür?" führe.

Bildung und Qualifizierung

Das Thema "Bildung" rückte in der Diskussion schnell in den Vordergrund, nicht allein weil Ministerpräsident Weil feststellte, dass in Hinblick auf die Zukunft alles nach dem Thema Bildung und Qualifizierung "schreie". Weil stellte für sich persönlich fest, dass Glück für ihn neben zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Arbeit oder Aufgabe bestehe, über die er sich definiere. Entsprechend eindringlich formulierte er: "Alle jungen Leute heute sollen alle ihre Talente entfalten." Dabei setzt er auf Ganztagsschulen und das duale System. Ersteres sorge dafür, dass Mädchen und Jungen viel Zeit miteinander verbringen müssten, was vor allem die Jungen daran hindere, sich möglichst schnell "hinter die Mattscheibe" zu verziehen. Das duale System hält Weil für eine "sinnvolle Alternative" zum Studium, das auch sehr im Interesse der Wirtschaft sei.
Geerdet wurden die Diskussion immer wieder vom Ökonomen Klasen, der unter anderem in Harvard promoviert und die Weltbank in Washington beraten hat und inzwischen als einziger Deutscher im UN-Ausschuss für Entwicklungspolitik sitzt. "Solange man weiterhin ein Augenmerk auf Innovation und Produktivität hat, lassen sich wirtschaftliche Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit auch mit reduzierter Arbeitszeit kombinieren", stellte er klar. Der Staat hätte damit weniger Geld zur Verfügung, was aber kein Problem sein müsse, wenn die Bürger zugleich mehr persönliches Engagement zeigten. Als Fortschritt würde es auch der Ökonom werten, wenn die Menschen insgesamt weniger Geld für ihr Glück bräuchten. Ministerpräsident Weil erinnerte schließlich daran, wie "kommod" wir lebten. "Ich will im Prinzip morgen so leben, wie ich heute lebe", sagte Weil, "damit das aber so ist, muss viel geschehen."
Adrienne Lochte, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen