Immunsystem bei Neugeborenen gedrosselt: Langsame Gewöhnung an die Außenwelt "auf Sparflamme"

Das Immunsystem von Säuglingen funktioniert bis sie etwa ein Jahr alt sind nur "mit angezogener Handbremse", wie ein Forscher(innen)team aus Hannover, Bonn und Münster jetzt herausgefunden hat. Dies soll sie vor lebensgefährlichen Entzündungsreaktionen schützen.

Im ersten Jahr nach der Geburt arbeitet das Immunsystem von Säuglingen nach neuesten Erkenntnissen absichtlich "auf Sparflamme". Forscher(innen) der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sowie der Universitäten Bonn und Münster haben dies in einer Studie gezeigt, die jetzt in der Fachzeitschrift nature immunology erschienen ist. Leiterin der Studie ist Prof. Dr. Dorothee Viemann von der Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie der MHH, die von der VolkswagenStiftung in dem Projekt "Endogenous alarmins determine successful gut colonization by warranting immune tolerance" im Rahmen der Initiative "Offen – für Außergewöhnliches" gefördert wird.

Der Grund für die reduzierte Immunantwort ist vermutlich, dass das Immunsystem nach der Geburt nicht zu stark auf Bakterien und Fremdstoffe außerhalb des Mutterleibs reagieren soll – was lebensgefährliche Entzündungsreaktionen (eine sog. Sepsis) auslösen könnte. Besonders Frühgeborene sind häufig von einer Sepsis betroffen; auch dem Auslöser von diesem Effekt sind die Forscher(innen) auf die Spur gekommen. Auf Basis ihrer Ergebnisse könnten neue therapeutische Ansätze entstehen, um Säuglinge vor einer Sepsis zu schützen.

Konfrontation mit unzähligen Bakterien und Fremdstoffen

Immunzellen von gesunden Neugeborenen lösen nur in sehr geringem Maße Entzündungen aus, dies ist bereits hinlänglich bekannt und bewiesen. Allerdings nahm die Wissenschaft bislang an, dass dies an einem nicht voll ausgereiften Immunsystem bei Säuglingen liegt, dass noch nicht zu einer schlagkräftigen Immunantwort in der Lage ist. Die neue Studie lässt jedoch die Vermutung zu, "dass dieser verminderten Entzündungsantwort eine spezifische und sinnvolle Programmierung zugrunde liegt", wie Dr. Thomas Ulas vom LIMES-Institut der Universität Bonn erklärt. Denn: Sobald das Neugeborene auf die Welt kommt, wird es schlagartig mit unzähligen unbekannten Bakterien und Fremdstoffen konfrontiert.

"Das "Spar-Programm" verhindert vermutlich, dass die körpereigenen Abwehrtruppen in unzählige Scharmützel verwickelt werden", berichtet Dr. Sabine Pirr von der MHH. Neben einer Sepsis, die dadurch verhindert wird, kommt hinzu, dass viele der unbekannten Mikroorganismen gar keine Krankheitserreger sind, sondern zum Teil notwendig für die Entwicklung des Säuglings: Der Darm funktioniert zum Beispiel nur dann so, wie er soll, wenn er mit bestimmten Bakterien besiedelt wurde.

"Angezogene Handbremse" wird Stück für Stück gelöst

Die "angezogene Handbremse", mit der das Immunsystem nach der Geburt läuft, wird sukzessive gelöst, bis die körpereigene Abwehr des jungen Kindes nach ungefähr einem Jahr seine volle Schlagkraft erlangt. "Wir haben dazu zu verschiedenen Zeiten Neugeborenen Blutproben entnommen und die Programmierung der Immunzellen analysiert", erklärt Prof. Dr. Dorothee Viemann von der MHH. Mithilfe der sogenannten Transkriptom-Analyse haben die Forscher(innen) unter anderem am Exzellenzcluster "Cells in Motion" der Universität Münster untersucht, welche Bereiche der genetischen Bauanleitung zu einem bestimmten Zeitpunkt abgelesen werden. Ihre Erkenntnis: Neugeborene produzieren aber dem Zeitpunkt der Geburt sogenannte S100-Alarmine, die verhindern, dass bestimmte Substanzen etwa in der Hülle von Bakterien eine Entzündungsreaktion auslösen – und die Produktion dieser Alarmine nimmt im Laufe der ersten Lebenswochen ab. Gleichzeitig werden andere Mechanismen aktiviert, die an Stelle der Alarmine das Immunsystem regulieren können.

Prof. Dr. Dorothee Viemann von der Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie der Medizinischen Hochschule Hannover hat die Studie zum Immunsystem von Neugeborenen geleitet. (Foto: MHH/Kaiser)

"Diese Programme sind bei Neugeborenen noch weitgehend inaktiv", erläutert Prof. Viemann. "Kindern, die nach der Geburt zu wenig Alarmine bilden, fehlt die Handbremse, weshalb sie ein massiv erhöhtes Risiko für schwere Infektionsverläufe haben." Von einer solchen Sepsis sind besonders häufig Frühgeborene betroffen, da oft erst zum normalen Geburtszeitpunkt die nötige Alarmin-Menge erreicht wird. Durch die Gabe von S100-Alarminen lassen sich daher vielleicht schwere Sepsisverläufe verhindern. In ersten Experimenten hat sich dieser Ansatz bereits als viel versprechend erwiesen.

Publikation

"S100 alarmin-induced innate immune programming protects newborn infants from sepsis", Thomas Ulas et al., Nature Immunology (DOI: 10.1038/ni.3745)

Hintergrund Förderinitiative "Offen – für Außergewöhnliches"

Für Projektideen, die ein außergewöhnliches Forschungsdesign verfolgen, visionäre Anstöße in die Wissenschaft geben oder für deren Akzeptanz die Neutralität eines privaten Förderers wichtig erscheint, gibt es das Angebot "Offen – für Außergewöhnliches". Hier fördert die Stiftung herausragende Ideen außerhalb vorgegebener Raster, quer zu Disziplinen und zum Mainstream. Das Angebot ist also Ausnahmefällen vorbehalten. Wer hier zum Zuge kommen will, muss mit seinem Vorhaben nicht nur höchsten wissenschaftlichen Maßstäben genügen, sondern auch plausibel darstellen können, dass sich im Rahmen der Förderangebote anderer Institutionen keine Unterstützung für das Projekt finden lässt.

Link zum Veranstaltungsbericht über das Herrenhäuser Forum "Frühkindliche Prägung" am 15. Juni 2017.

In den Nachfragen des Publikums wurden sowohl Neugierde als auch Verunsicherung deutlich.